Moskau ist dialogbereit

Nach Berichten des russischen Internetportals „Sputniknews“ hat Russlands Präsident Putin in einem Brief an die Regierungen der NATO-Staaten ein Moratorium für die Stationierung landgestützter atomarer Kurz- und Mittelstreckenraketen vorgeschlagen. Die Bundesregierung hat den Erhalt des Briefes am 24.September bestätigt. Auch die EU-Außenbeauftragte Federica Mogherini und der NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg bekamen Post aus Moskau. Russland ergreift damit nach der Aufkündigung des INF-Vertrages durch die Vereinigten Staaten von Amerika die Initiative, ein erneutes Wettrüsten in Europa zu verhindern.

Die USA hatten Moskau vorgeworfen, mit der Entwicklung des landgestützten Marschflugkörpers 9M729 (NATO-Code SS-C-8) gegen den 1987 zwischen der UdSSR und den USA geschlossenen INF-Vertrag über die Vernichtung von Kurz- und Mittelstreckenraketen verstoßen zu haben. Denn der russische Marschflugkörper habe eine Reichweite von über 500 Kilometern, was russische Offizielle bestreiten. Der INF-Vertrag legte damals fest, dass Raketen mit einer Reichweite zwischen 500 und 5.500 Kilometern einschließlich der zugehörigen Start- und Führungsinfrastruktur zu vernichten sind. Betroffen waren davon unter anderem die sowjetischen SS-20- Raketen und die in der Bundesrepublik stationierten amerikanischen Pershing II-Raketen. Der Vertrag trug zur Vertrauensbildung zwischen Warschauer Pakt und NATO bei, weil damit das Problem der extrem kurzen Vorwarnzeiten bei einem möglichen Einsatz von Nuklearwaffen in Mitteleuropa zumindest teilweise entschärft wurde. Es war eines der wichtigsten Rüstungskontroll- und Abrüstungsabkommen. Allerdings hatten die USA in diesen Vertrag eine Ausnahme hinein verhandelt: Mittelstreckenraketen und Marschflugkörper auf Schiffen, U-Booten und Flugzeugen wurden durch den Vertrag nicht berührt. Dieses Arsenal blieb im Bestand der US-Streitkräfte. So befinden sich allein auf einem U-Boot der Ohio-Klasse 154 und auf nur einem Kreuzer der Ticonderoga-Klasse: 122 Marschflugkörper des Typs Tomahawk (Reichweite: ca. 2.000 Kilometer). Die UdSSR verfügte nicht über solche Waffen.

Die Vereinigten Staaten von Amerika waren durch diese Waffenarten in einem strategischen Vorteil – insbesondere bei der Androhung und Realisierung von Angriffsoperationen im Rahmen ihres weltweiten Einsatzkonzepts Prompt Global Strike.

Etwa ab dem Jahr 2000 bemühte sich Russlands Rüstungsindustrie um Lösungen für eine asymmetrische Nachrüstung. Das Ergebnis waren Marschflugkörper des Systems ZK-14 Kalibr, die 2012 in den Truppendienst kamen. Russland nutzte nun seinerseits die von den USA in den INF-Vertrag eingebaute Regelungslücke. Folgende Modifikationen des Waffensystems stehen zur Verfügung:

  • U-Boote: Kalibr-PL, Überwasserschiffe: Kalibr-NK, Küstenschutzbatterien: Kalibr-M, Bomber: Kalibr-A
  • Flughöhe der Raketen: 20 - 150 m über dem Meer, 50-150m über dem Land
  • Reichweite: 2.600 Km
  • Geschwindigkeit: Mach 2,5 (Tomahawk: Mach 0,5 – 0,75)
  • Erfolgreicher erster Gefechtstest: 7. Oktober 2015 gegen den IS in Syrien
  • Der Einsatz erfolgte seegestützt von Küstenschutzschiffen im Kaspischen Meer, von U-Booten und Fernbombern Tu-95 und Tu-160

 

NATO-Strategen reagierten völlig überrascht, konnten allerdings Russland nicht die Entwicklung und den Einsatz von Waffen vorwerfen, die laut INF-Vertrag gestattet waren. Russlands Militärs konstatierten allerdings, dass die Vereinigten Staaten sich anschickten, den Vertrag auszuhöhlen. Denn von den in Polen und Rumänien errichteten Starteinrichtungen des amerikanischen Anti-Raketenschildes können auch Marschflugkörper abgefeuert werden. Schon die Stationierung einer solchen Infrastruktur stellt eine Verletzung des INF-Vertrages dar. Im Falle eines Einsatzes dieser Waffen zur Neutralisierung der russischen nuklearen Erst- und Zweitschlag-fähigkeit ergeben sich für Russland extrem kurze Vorwarnzeiten, was Gegenmaß-nahmen beinahe unmöglich machen würde. Außerdem vermuteten russische Rüstungsexperten, dass die für die Konditionierung des amerikanischen Anti-Raketenschildes zu Testzwecken eingesetzten Übungsraketen eine verdeckte Entwicklung neuer Mittelstreckenwaffen darstellten. Entsprechende Nachfragen wurden von amerikanischer Seite schon vor mehr als zehn Jahren zurückgewiesen und die Mitarbeit amerikanischer Vertreter in dem dafür zuständigen Kontrollgremium ausgesetzt. Auch US-Angriffsdrohnen sind mit ihren taktischen Einsatzmöglichkeiten nach Auffassung russischer Militärs eine Verletzung des INF-Vertrages.

Die Vereinigten Staaten suchten seit geraumer Zeit einen Anlass für den Ausstieg aus diesem Vertrag, der von US-Strategen zunehmend als nicht mehr zeitgemäße Beschränkung waffentechnischer Entwicklungs- und Einsatzmöglichkeiten betrachtet wurde. Insbesondere die NATO-Osterweiterung und das Herausbrechen der Ukraine aus dem GUS-Raum schien die Möglichkeit zu bieten, mittels moderner Kurz- und Mittelstreckenwaffen Russland strategisch unter Druck zu setzen und dessen Nuklearpotential zu bedrohen. Auch gegen China würden US-Militärs gerne diese Waffen in Stellung bringen.

Mit dem Verweis auf die nicht belegte höhere Reichweite der Iskander M/9M729 (Mindestreichweite: 50 Km, maximale Reichweite 480 Km laut russischen Angaben) wurde ein Vorwand für den Ausstieg aus dem als lästig empfundenen Vertrag konstruiert. Russland bestätigte die Entwicklung des System auf einer Pressekonferenz des russischen Verteidigungsministeriums am 23. Januar 2019. Eine Einladung an die Militärattachés der USA, Großbritanniens, Frankreichs, Deutschlands sowie an Vertreter der NATO und der EU zur Besichtigung des Marschflugkörpers wurde von diesen allerdings mit der Begründung ausgeschlagen, dass man durch einen solchen Termin die tatsächliche Reichweite nicht prüfen könne. Ein Angebot für die Inspektion des Waffensystems an die USA wurde ebenfalls wegen der angeblich unmöglichen Verifizierung der Reichweite durch diese abgelehnt.

Doch Russland unternimmt mit dem Angebot des Moratoriums einen erneuten Anlauf, ein neues Wettrüsten in Mitteleuropa zu verhindern. Denn ein solcher befristeter Stationierungsverzicht würde Spielraum für Verhandlungen zwischen der NATO und Russland über diese Waffenarten bieten.

von Redaktion (Kommentare: 1)

Zurück

Einen Kommentar schreiben

Kommentar von Volkart Otto |

Wie so oft: Herzlichen dank für diese -für meine Argumentation- nützlichen Infos!
Kampfesgrüße! Volkart Otto